Die Welt aus den Fugen

oder warum Empathie und Nächstenliebe einen gesunden Nährboden brauchen. Ein Versuch, zu erklären, wie wir mit den heutigen Herausforderungen umgehen können.
Wenn ich eine Nachrichtenseite im Internet öffne, werde ich immer öfter an einen der letzten Buchtitel von Peter Scholl-Latour erinnert: “Die Welt aus den Fugen”. Der große Welterklärer schaffte es immer wieder mit Witz, seinem unglaublichen breiten Wissensschatz und einem unbändigen Drang des "Verstehen-Wollens", unübersichtliche Sachverhalte für uns Laien herunterzubrechen. Und dabei machte er uns klar, wie kompliziert die Welt eigentlich wirklich ist.
Und warum schwarz und weiß einfach nicht ausreichen, um ein Bild von ihr zu zeichnen.
Manchmal sitze ich ratlos da und frage mich, wie der gute alte Welterklärer mit den heutigen Herausforderungen umgehen würde. Es folgt ein - zweifelsohne unzureichender - Versuch meinerseits.
Ein Mangel an Empathie und Nächstenliebe, den auch ich an mir selbst immer wieder wahrnehme, scheint mir einer der wesentlichen Gründe für Konflikte zu sein. Dazu kommen Technologien, die unsere Reaktionen beschleunigen, anstatt, wie in Konflikten sinnvoll, zu verlangsamen. Boshafte Interventionen von außen, die Menschengruppen wie Kampfhunde aufeinander hetzt sehen wir allerorts, können aber nur in Spalten eindringen, die grundsätzlich vorhanden sind.
Die Empathie, als zu entwickelnde Fähigkeit eines jeden Menschen, hat zwei große Feinde: Einerseits die Angst und andererseits den Reichtum.
Bei Angst scheint der Fall vermutlich klarer und logischer zu sein. Wenn ich in meiner Existenz bedroht bin und im Gefühl eines “ich oder du” bzw. eines “wir oder die” hängen bleibe, sind viele von uns bereit, moralisch verwerfliche Handlungen zu setzen. Wir erinnern uns an das Brecht-Zitat: “Zuerst das Fressen, dann die Moral.” Wenngleich es sogar in Situationen wie im Konzentrationslager immer wieder nachweislich zu Größe und Mitgefühl kam, war doch die generelle Empathiefähigkeit sehr beschränkt und nur wenige von uns sind geneigt, diesen Menschen einen Vorwurf zu machen. Wenn die Insassen nach Möglichkeit eine Extrascheibe Brot für sich oder die Ihren zur Seite geschafft haben - auf Kosten der anderen - dann erscheint dies verständlich..
Viel interessanter ist der Fall jedoch bei Reichtum. In verschiedenen Versuchsanordnungen wurde immer wieder bestätigt, dass verhältnismäßiger Reichtum die eigene Empathiefähigkeit einschränkt. Dies beginnt bei harmlosen Monopoly-Spielrunden, wo eine Person durch einen Münzwurf mit einem offensichtlichen Vorteil ausgestattet wird (Doppeltes Einkommen beim Überschreiten des Startfeldes) und das Spiel klar zu dessen Gunsten ausgelegt wird. Diese Menschen bedienen sich z.B. an gemeinschaftlichen Brezeln verhältnismäßig stärker und verhalten sich tatsächlich immer unfreundlicher gegenüber den Verlierern. Nach dem Grund des Sieges gefragt finden sie Gründe warum nicht die unfaire Versuchsanordnung, sondern die eigenen Tugenden und Entscheidungen zum Sieg geführt haben (Paul Piff: Does money make you mean? | TED Talk)
Ebenso führt die Möglichkeit, sich von Problemen zu einem hohen Grad freikaufen zu können - oder diese gar nicht erst zu haben - dazu, dass die Lebensrealitäten ärmerer Menschen nicht wahrgenommen werden. Dies machte eine leichtere Legitimation der eigenen Situation möglich. Nur Menschen wie z.B. Marlene Engelhorn, die es auf lange Sicht nicht schaffen, sich ihre - durch den Zufall der Geburt - exaltierte Position schönzureden, fühlen sich zur Handlung verpflichtet.
Es scheint also so zu sein, dass für Empathie und Nächstenliebe sowohl Armut als auch übertriebener Reichtum ein Problem darstellen. Ein Grundeinkommen ist in der Lage Menschen vor Armut zu schützen. Und Erbschafts- bzw. Vermögenssteuern sind in der Lage die Reichen vor sich selbst zu schützen. Dann könnten wir der eisernen Lady Margaret Thatcher vielleicht wieder antworten: “There IS such a thing as society!”
