Leben mit Grundeinkommen - ein Erfahrungsbericht

Sergej Justus aus Linden im Kreis Gießen war einer von 122 Teilnehmern des "Pilotprojekts Grundeinkommen" vom Verein “Mein Grundeinkommen”. Dem 42-Jährigen wurde von Juni 2021 bis Mai 2024 ein bedingungsloses Grundeinkommen von 1200 Euro monatlich ausbezahlt. Wir haben hier seine Erfahrungen zusammengefasst, um euch einen Einblick in dieses Experiment zu geben.

Mehr Freiheit zur persönlichen Entwicklung 

Für Justus, der normalerweise 1900 Euro im Monat verdient, bedeuten die zusätzlichen 1200 Euro eine enorme Veränderung. Seine erste Reaktion? Er reduzierte seine Arbeitszeit von acht auf sechs Stunden täglich. "Ich habe Freiheit hinzugewonnen", berichtet er. Plötzlich hatte er das Gefühl, nach Feierabend um 13 Uhr einen "zweiten Tag" vor sich zu haben. Diese Erfahrung deckt sich mit Erkenntnissen aus anderen Experimenten, Reduktionen gab es bei geleisteten Erwerbsarbeitsstunden, nicht bei Beschäftigungszahlen.

Faul wurde Justus deshalb trotzdem nicht, ganz im Gegenteil. Das Grundeinkommen ermöglichte ihm, neue Wege einzuschlagen. Er begann eine Ausbildung zum Yoga-Lehrer - etwas, das er ohne das zusätzliche Geld "wahrscheinlich nicht angefangen" hätte. Auch in seinen Garten und die Bienenzucht investierte er. Zudem fand er mehr Zeit, Freunden und Familie zu helfen. 

Obwohl das Experiment nun beendet ist, plant Justus, weiterhin nur sechs Stunden täglich zu arbeiten. Er denkt sogar über eine Existenzgründung als Yoga-Lehrer nach, eine Option, die das Grundeinkommen ihm ermöglicht hat.

Die gesellschaftliche Dimension

Justus sieht im bedingungslosen Grundeinkommen das Potenzial, dass "Menschen auf einem würdigen Level ohne Angst existieren" können. Er glaubt nicht, dass die Arbeitskraft einer Gesellschaft dadurch sinken würde, da Arbeit für die meisten Menschen mehr bedeutet als nur Geld zu verdienen. Tatsächlich gibt es viele Arten von Arbeit: die Eigenarbeit an einem selbst um zu Wachsen; die Sorgearbeit rund um Mensch, Tier und Pflanze; die Freiwilligenarbeit ohne die in Österreich schon lange nichts mehr laufen würde; und letztlich die Erwerbsarbeit als einzige, für die wir Geld erhalten, ohne welches wir keiner der anderen Arbeiten nachgehen könnten.

Das Experiment von Sergej Justus gibt uns einen faszinierenden Einblick in die möglichen Auswirkungen eines bedingungslosen Grundeinkommens. Es zeigt, wie zusätzliche finanzielle Sicherheit Menschen dazu ermutigen kann, neue Wege zu gehen und sich persönlich weiterzuentwickeln. Darüber hinaus erhöht ein BGE nicht nur das Vertrauen der Menschen in die eigenen Fähigkeiten, sondern auch in staatliche Institutionen und in die Zukunft[1]. Dieser positive Nebeneffekt wäre in unserer heutigen Gesellschaft, die gespaltener denn je erscheint, besonders wichtig.  

Ausblick

Das Experiment mit Sergej Justus zeigt eindrucksvoll, wie ein bedingungsloses Grundeinkommen das Leben eines Menschen positiv verändern kann. Es ermöglicht mehr Freiheit, persönliche Entwicklung und kann sogar unternehmerische Impulse setzen.

Dennoch sind weitere Studien und größer angelegte Experimente nötig, um die langfristigen Auswirkungen eines flächendeckenden Grundeinkommens zu verstehen. Die für Januar angekündigten Ergebnisse der Studie des Vereins "Mein Grundeinkommen" werden sicherlich weitere wertvolle Erkenntnisse liefern.

Als Gesellschaft stehen wir vor der Herausforderung, innovative Lösungen für soziale Sicherheit und Gerechtigkeit zu finden. Das bedingungslose Grundeinkommen könnte ein Weg sein, um den Herausforderungen der Zukunft - wie Digitalisierung und Automatisierung oder die Überalterung unserer Gesellschaft - zu begegnen und gleichzeitig mehr individuelle Freiheit zu ermöglichen.